(Foto: Gisela Heese) |
Jürgen Schwalm: Arabeske, Porzellanmalerei, 2004 |
Jürgen Schwalm
Ein Liedchen grün
Als die Brise des Morgens
ein Liedchen grün
frisch-saftig
bitter-süß
in scherzender Weise
auf Flatterreise
brachte,
machte
auch eine spaßhafte Meise
ihre Flugkreise
geschwind
wie der Wind
als groteske
Arabeske,
wobei sie zwitschernd lachte.
Der Mensch definiert – unermüdlich und eigensinnig konsequent – das, was er für seine Welt hält, indem er sie vermisst und datiert. Die Ergebnisse dieser Vermessungen des Universums hält er für richtig, da er überzeugt ist, überall das bestimmende Zentrum auszumachen, um das sich jedes Geschehen dreht. Aber die Welt lässt sich nicht von uns definieren. Um es burschikos zu formulieren: Sie pfeift auf unsere vergeblichen Bemühungen, sie interpretieren zu wollen.
Jürgen Schwalm
Jürgen Schwalm: "Im Hochgebirge". - Hinterglastechnik, 2011. - Ärztekammer Bad Segeberg |
Meine Großeltern Hans Dragendorff und Marie Dragendorff, geb. Rein; Foto um 1900. Bildarchiv Jürgen Schwalm |
Im August 1897 schrieb Bernhard von Bülow (1849-1929), von 1900-1909 Reichskanzler, über Wilhelm II (1859-1941), von 1888-1918 deutscher Kaiser:
„S. M. als Mensch reizend, rührend, hinreißend, zum Anbeten; als Regent durch Temperament, Mangel an Nuancierung und zuweilen auch an Augenmaß, Überwiegen des Willens über die ruhig-nüchterne Überlegung…von schwersten Gefahren bedroht, wenn er nicht von klugen und namentlich von ganz treuen und sicheren Dienern umgeben ist. Davon wird es abhängen, ob seine Regierung ein glänzendes oder ein düsteres Blatt in unserer Geschichte ausfüllt. Bei seiner Individualität ist beides möglich.“
Diesen Sätzen hätte mein Großvater, der Archäologe Prof. Dr. Hans Dragendorff (1870-1941), zugestimmt, wurde er doch, seit 1911 Leiter des Archäologischen Institutes in Berlin, mehrfach zu Arbeitsessen und Arbeitsgesprächen mit dem Kaiser in das Berliner Schloss geladen. Dragendorff hat in Gesprächen mit meiner Mutter (Lotte Schwalm, geb. Dragendorff) immer betont, dass er dabei alle archäologischen Anliegen der Zeit, vor allem auch die finanziellen Probleme bei Grabungen, offen ansprechen konnte, und dass der Kaiser rasch bereit war, Lösungen zu finden bzw. zu delegieren, wobei er bei Engpässen sogar die eigene Schatulle öffnete. Dragendorff sagte zu meiner Mutter, dass der Kaiser bei gründlicher Ausbildung vielleicht sogar ein guter Archäologe geworden wäre, da er wirklich Interesse an dem Fach gehabt hätte.
Als Kind war ich natürlich mehr an der Schilderung der Äußerlichkeiten dieser Treffen interessiert. Mein Großvater sollte mir dann vormachen, wie der Kaiser aß, nämlich wegen der Armlähmung nur einhändig, d.h. feste Speisen bekam er aufgeschnitten serviert. Da der Kaiser auch noch sehr schnell aß, die von ihm angesprochenen Gäste nichts essen durften und die Teller sofort abgeräumt wurden, wenn der Kaiser fertig war, kam mein Großvater nie zum Essen. War die Kaiserin Auguste Viktoria dabei, verzögerte sie, weil sie Mitleid mit den Gästen hatte, absichtlich das Essen, denn dann wurden die Teller erst fortgenommen, wenn sie -und nicht der Kaiser – fertig war. Bei Dragendorff erkundigte sich die Kaiserin einmal freundlich nach den Kindern, aber „das war rein rhetorisch; sie hatte keine Ahnung“, sagte mein Großvater.
Jürgen Schwalm
Jürgen Schwalm: Dramatische Landschaft, Acrylfarben auf Malkarton, 2012 |
Hinweis auf eine Veranstaltung des Lübecker Autorenkreises (Leitung Klaus Rainer Goll): Am Donnerstag, d. 25. April 2024, ab 16.00 Uhr, liest Jürgen Schwalm im Wiener Caféhaus, Lübeck, Breite Straße 62, ernste und heitere Texte aus seinen in den letzten Jahren erschienenen Publikationen.
Zitat aus der Einleitung:
…1976, in einer Zeit, als die Züge noch die Abfahrts- und Ankunftstermine einhielten, schrieb ich das Gedicht
Dreiundzwanziguhrneun
Du kamst mit dem Nachtzug –
Die Dunkelheit löschte die Entfernungen –
Die Signale waren auf Heimkehr gestellt –
Die Bahnhofshalle rollte den Schienenteppich aus –
Die Lampen bogen sich zum Empfang –
Meine Erwartung durchbrach die Sperren –
Vorm letzten Zeigersprung
riefen die Lautsprecher
nur noch persönliche Nachrichten aus –
Bei der Einfahrt suchte mich dein Blick –
Als ich ihn fing waren alle deine Reisen am Ziel –
Ankunftszeit Dreiundzwanziguhrneun –
Endstation
Damals fand in Bad Mergentheim der Weltkongress der Schriftsteller-Ärzte statt. Da las ich dieses Gedicht, und am Schluss trat Ilse Benn (1913-1995), die Frau von Gottfried Benn (1886-1956), auf die Gruppe zu, bei der ich stand, und sagte: „Endlich einmal einer, der noch ein Bahnhofsgedicht scheibt, meinen Mann hätte es gefreut.“ – Am nächsten Tag fand ein Busausflug mit den Autoren statt, da hörte ich, wie ein Autor in der Reihe hinter mir zu seinem Nachbarn so laut und deutlich, dass ich es hören musste, sagte: „Der Schwalm? Das ist auch bloß ein Protegé der Benn.“ – Als ich das meinem Freunde Armin Jüngling erzählte, sagte er: „Wenn ein Autor wegen eines anderen Autors neidisch wird, lästert er gleich so lange über alle seine Autorenfreunde mit, bis er am Schluss nur noch Autorenfeinde hat.“ - Dieses Bonmot wollte ich Ihnen nicht vorenthalten…
Jürgen Schwalm
Venedig
Obwohl Brunetti vom Ort eines gewaltsamen Todes zurückkehrte, konnte er nicht verhindern, dass sein Herz höher schlug beim Anblick der Glockentürme und der pastellfarbenen Fassaden, die vor ihm auftauchten, als das Polizeiauto über die Brücke fuhr. Schönheit änderte nichts, das wusste er, und vielleicht war der Trost, den sie spendete, nur eine Illusion, aber dennoch begrüßte er diese Illusion.
Donna Leon, Venezianische Scharade,1996
Wo die Paläste an Mörtelfraß leiden
und an fauliger Gangrän,
wo die Fassaden verschimmeln
und die Wasserstraßen stinken,
können Brücken nur darüber seufzen,
dass sich dort noch immer
so viele Liebende vergondeln lassen,
in sentimentaler Verblendung
die Hochzeitsringe tauschen,
um schließlich doch
im Tränenmeer der Lagune zu versinken.