Freitag, 17. Mai 2024

(Foto: Gisela Heese)

 

Ein Liedchen grün

Jürgen Schwalm: Arabeske, Porzellanmalerei, 2004

 

 

Jürgen Schwalm

 

Ein Liedchen grün

 

Als die Brise des Morgens

ein Liedchen grün

frisch-saftig

bitter-süß

in scherzender Weise

auf Flatterreise

 brachte,

machte

auch eine spaßhafte Meise

ihre Flugkreise

geschwind

wie der Wind

als groteske

Arabeske,

wobei sie zwitschernd lachte.  

 

 

 

 

Freitag, 10. Mai 2024

Vermessene Vermessungsergebnisse

Zeitmesser: Taschen-Sonnenuhr, hergestellt von Michael Kala (8720 Knittelfeld / Steiermark / Österreich) nach einem historischen Vorbild im Royal Observatory von Greenwich. - Sammlung und Foto : Jürgen Schwalm

 

Der Mensch definiert – unermüdlich und eigensinnig konsequent – das, was er für seine Welt hält, indem er sie vermisst und datiert. Die Ergebnisse dieser Vermessungen des Universums hält er für richtig, da er überzeugt ist, überall das bestimmende Zentrum auszumachen, um das sich jedes Geschehen dreht. Aber die Welt lässt sich nicht von uns definieren. Um es burschikos zu formulieren: Sie pfeift auf unsere vergeblichen Bemühungen, sie interpretieren zu wollen.


Jürgen Schwalm 

 

 

 

 

Freitag, 3. Mai 2024

Anton Bruckner - Neunte Sinfonie

Jürgen Schwalm: "Im Hochgebirge". - Hinterglastechnik, 2011. - Ärztekammer Bad Segeberg

 



Vor 200 Jahren, am 4. September 1824, kam Anton Bruckner in Ansfelden /Oberösterreich zur Welt. Deshalb werden in diesem Jahr weltweit seine monumentalen sinfonischen Werke aufgeführt.



Jürgen Schwalm

Anton Bruckner – Neunte Sinfonie


…ich streue die Asche grauer Gedanken über die Sternblüten,
und in dunkler Nacht, wenn die Welt mich nicht mehr stören kann,
setz ich Note gegen Note – Punctus contra punctum –
wie ich’s gelernt hab, und diplomiert ist es auch,
das stopf ich dem Brahms in den Hals
und dem HERRN HERRN Wagner leg ich’s untertänigst zu Füßen…

… und wie ich sie schreib, da hör ich sie, die Musik
auf der Orgel in Sankt Florian mit allen Registern,
die ich ziehe, mit großem Orchester,
den Fanfarenschrei der letzten Stunde,
den stampfenden Rhythmus der Höllenmaschinen,
die brausende Himmelfahrt, die jubelnden Himmelschoräle…

… da taste ich im Nebelfall zurück, wo einst der Sonnenwirbel zuckte, 
bevor der Sommer starb… ach, meine einsamen Sommer, 
meine Herbsttage, in denen die Zeitlose fahlte…

… und nun lausche ich, wie die Totenuhr pocht im Gebälk,
und forme, Wurm, der ich bin,
und dennoch pflichtbewusst in meiner Schwäche,
Takt für Takt und Satz für Satz
mein letztes klingendes Gebet,
das DIR, LIEBER GOTT, GEWIDMET ist … 
 
 
 
 
 
 

Freitag, 26. April 2024

Kaiser Wilhelm II und Hans Dragendorff

Meine Großeltern Hans Dragendorff und Marie Dragendorff, geb. Rein; Foto um 1900. Bildarchiv Jürgen Schwalm

 

Im August 1897 schrieb Bernhard von Bülow (1849-1929), von 1900-1909 Reichskanzler, über Wilhelm II (1859-1941), von 1888-1918 deutscher Kaiser:

 „S. M. als Mensch reizend, rührend, hinreißend, zum Anbeten; als Regent durch Temperament, Mangel an Nuancierung und zuweilen auch an Augenmaß, Überwiegen des Willens über die ruhig-nüchterne Überlegung…von schwersten Gefahren bedroht, wenn er nicht von klugen und namentlich von ganz treuen und sicheren Dienern umgeben ist. Davon wird es abhängen, ob seine Regierung ein glänzendes oder ein düsteres Blatt in unserer Geschichte ausfüllt. Bei seiner Individualität ist beides möglich.“

Diesen Sätzen hätte mein Großvater, der Archäologe Prof. Dr. Hans Dragendorff (1870-1941), zugestimmt, wurde er doch, seit 1911 Leiter des Archäologischen Institutes in Berlin, mehrfach zu Arbeitsessen und Arbeitsgesprächen mit dem Kaiser in das Berliner Schloss geladen. Dragendorff hat in Gesprächen mit meiner Mutter (Lotte Schwalm, geb. Dragendorff) immer betont, dass er dabei alle archäologischen Anliegen der Zeit, vor allem auch die finanziellen Probleme bei Grabungen, offen ansprechen konnte, und dass der Kaiser rasch bereit war, Lösungen zu finden bzw. zu delegieren, wobei er bei  Engpässen sogar die eigene Schatulle öffnete. Dragendorff sagte zu meiner Mutter, dass der Kaiser bei gründlicher Ausbildung vielleicht sogar ein guter Archäologe geworden wäre, da er wirklich Interesse an dem Fach gehabt hätte.

Als Kind war ich natürlich mehr an der Schilderung der Äußerlichkeiten dieser Treffen interessiert. Mein Großvater sollte mir dann vormachen, wie der Kaiser aß, nämlich wegen der Armlähmung nur einhändig, d.h. feste Speisen bekam er aufgeschnitten serviert. Da der Kaiser auch noch sehr schnell aß, die von ihm angesprochenen Gäste nichts essen durften und die Teller sofort abgeräumt wurden, wenn der Kaiser fertig war, kam mein Großvater nie zum Essen. War die Kaiserin Auguste Viktoria dabei, verzögerte sie, weil sie Mitleid mit den Gästen hatte, absichtlich das Essen, denn dann wurden die Teller erst fortgenommen, wenn sie -und nicht der Kaiser – fertig war. Bei Dragendorff erkundigte sich die Kaiserin einmal freundlich nach den Kindern, aber „das war rein rhetorisch; sie hatte keine Ahnung“, sagte mein Großvater.

Jürgen Schwalm

 

 

 


 

Freitag, 19. April 2024

Veranstaltung des Lübecker Autorenkreises am 25. April 2024

Jürgen Schwalm: Dramatische Landschaft, Acrylfarben auf Malkarton, 2012

 

Hinweis auf eine Veranstaltung des Lübecker Autorenkreises (Leitung Klaus Rainer Goll): Am Donnerstag, d. 25. April 2024, ab 16.00 Uhr, liest Jürgen Schwalm im Wiener Caféhaus, Lübeck, Breite Straße 62, ernste und heitere Texte aus seinen in den letzten Jahren erschienenen Publikationen.

Zitat aus der Einleitung:

…1976, in einer Zeit, als die Züge noch die Abfahrts- und Ankunftstermine einhielten, schrieb ich das Gedicht

 

Dreiundzwanziguhrneun

 

Du kamst mit dem Nachtzug –

Die Dunkelheit löschte die Entfernungen –

Die Signale waren auf Heimkehr gestellt –

Die Bahnhofshalle rollte den Schienenteppich aus –

Die Lampen bogen sich zum Empfang –

Meine Erwartung durchbrach die Sperren –

Vorm letzten Zeigersprung

riefen die Lautsprecher

nur noch persönliche Nachrichten aus –

Bei der Einfahrt suchte mich dein Blick –

Als ich ihn fing waren alle deine Reisen am Ziel –

Ankunftszeit Dreiundzwanziguhrneun –

Endstation

 

Damals fand in Bad Mergentheim der Weltkongress der Schriftsteller-Ärzte statt. Da las ich dieses Gedicht, und am Schluss trat Ilse Benn (1913-1995), die Frau von Gottfried Benn (1886-1956), auf die Gruppe zu, bei der ich stand, und sagte: „Endlich einmal einer, der noch ein Bahnhofsgedicht scheibt, meinen Mann hätte es gefreut.“ – Am nächsten Tag fand ein Busausflug mit den Autoren statt, da hörte ich, wie ein Autor in der Reihe hinter mir zu seinem Nachbarn so laut und deutlich, dass ich es hören musste, sagte: „Der Schwalm? Das ist auch bloß ein Protegé der Benn.“ – Als ich das meinem Freunde Armin Jüngling erzählte, sagte er: „Wenn ein Autor wegen eines anderen Autors neidisch wird, lästert er gleich so lange über alle seine Autorenfreunde mit, bis er am Schluss nur noch Autorenfeinde hat.“ -  Dieses Bonmot wollte ich Ihnen nicht vorenthalten…

 

 

 

 

 

Freitag, 12. April 2024

Venedig

 

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Cover eines Leporellos: 64 Fotos von Venedig; die italienische Ausgabe enthält keine Quellenangaben, erschien aber, wie sich aus einer Bildlegende ableiten lässt, nach 1933. Die Fotosammlung erwarb mein Großvater Theodor Schwalm im April 1935, als er sich mit seinem Sohn Eduard und seiner Schwiegertochter Tilly in Venedig aufhielt. - Die Musikstadt Venedig ist übrigens ein Schwerpunktthema des diesjährigen Schleswig - Holstein Musik Festivals (SHMF 2024).


 Jürgen Schwalm

Venedig

Obwohl Brunetti vom Ort eines gewaltsamen Todes zurückkehrte, konnte er nicht verhindern, dass sein Herz höher schlug beim Anblick der Glockentürme und der pastellfarbenen Fassaden, die vor ihm auftauchten, als das Polizeiauto über die Brücke fuhr. Schönheit änderte nichts, das wusste er, und vielleicht war der Trost, den sie spendete, nur eine Illusion, aber dennoch begrüßte er diese Illusion.

 Donna Leon, Venezianische Scharade,1996


Wo die Paläste an Mörtelfraß leiden
und an fauliger Gangrän,
wo die Fassaden verschimmeln
und die Wasserstraßen stinken,
können Brücken nur darüber seufzen,
dass sich dort noch immer
so viele Liebende vergondeln lassen,
in sentimentaler Verblendung
die Hochzeitsringe tauschen,
um schließlich doch
im Tränenmeer der Lagune zu versinken.